Betrachte die Sterne
Jeden Abend vor dem Schlafengehen geht Hugh vor die Tür, um die Sterne zu betrachten. Nicht aus wissenschaftlichem Interesse – er zeigt weder auf einzelne Sternbilder, noch gibt es beiläufige Bemerkungen zu Canopus; er lässt seinen Blick einfach nur über ihre ungeheure Masse schweifen und seufzt ab und zu. Wenn man ihn fragt, ob es Leben auf anderen Planeten gibt, sagt er: »Aber sicher. Bei den Möglichkeiten«
Es erscheint ziemlich anmaßend, das ganze Universum für uns selbst zu beanspruchen, aber vom persönlichen Standpunkt aus finde ich den Gedanken an extraterrestrisches Leben in hohem Maße irritierend. Wenn es tatsächlich Milliarden anderer Zivilisationen gibt, wo bleiben da unsere Berühmtheiten? Wenn Bedeutung an einer stufenlosen Skala von Anerkennung gemessen würde, welche Auswirkungen hätte es, wenn wir alle mit einem Schlag ins Bodenlose fielen? Wie sollten wir wissen, wo wir stehen?
Beim Nachdenken über diese Fragen fällt mir der Labor Day des Jahres 1968 ein, den ich im Raleigh Country Club verbrachte. Ich saß an der Snackbar und hörte einer Gruppe von Sechstklässlern zu, die aus einem anderen Stadtteil kamen und die wichtigsten Veränderungen im neuen Schuljahr besprachen. Nach Auskunft eines Mädchens namens Janet waren weder Pam Dobbins noch J. J. Jackson zur Fourth-of-July-Party bei den Duffy-Zwillingen eingeladen, und diese hatten Kath Matthews auch erzählt, Pam und J. J. seien für das kommende Schuljahr beide abgemeldet. »Ganz und gar weg vom Fenster«, sagte Janet. »Puff.«
Ich kannte keine Pam Dobbins oder J. J. Jackson, aber der ehrfürchtige Ton von Janets Stimme versetzte mich in einen Zustand leiser Panik Man mag mich für naiv halten, aber es war mir nie in den Sinn gekommen, dass andere Schulen ihre eigenen Ton angebenden Cliquen hatten. Mit meinen zwölf Jahren dachte ich, dass die Wortführer an der E.-C.-Brooks-Schule wenn auch nicht landesweit bekannt, so doch zumindest eine feststehende Einrichtung waren. Warum sonst sollte sich unser Leben so ausschließlich um sie drehen? Ich selbst gehörte nicht zu den angesagten Leuten unserer Schule, aber ich erinnere mich noch, dass ich dachte, Janets Clique, wer auch immer dazugehörte, könnte es nicht mit unseren Leuten aufnehmen. Was aber, wenn ich mich täuschte? Wenn ich mich über Jahre an Leuten gemessen hatte, die völlig bedeutungslos waren? Sosehr ich mich auch anstrenge, noch heute weiß ich darauf keine Antwort.
Sie fanden in der dritten Klasse zusammen Ann Carlsworth, Christie Kaymore, Deb Bevins, Mike Holliwell, Doug Middleton, Thad Pope: Das war der harte Kern der Stars unserer Klasse, und in den kommenden sechs Jahren studierten meine Klassenkameraden und ich ihr Leben mit dem Eifer, mit dem wir Mathematik und Englisch hätten lernen sollen. Was uns am meisten verwirrte, war das Fehlen eines besonderen Erfolgsrezepts. Waren sie witzig? Nein. Interessant? Gähn. Keiner besaß einen Pool oder Pferde. Sie hatten keine besonderen Talente, und ihre Noten waren durchschnittlich. Es war gerade ihr Mangel an Auszeichnung, der dem Rest von uns Mut machte und uns bei der Stange hielt. Hin und wieder nahmen sie ein neues Mitglied in ihren Club auf, und fast alle in der Klasse flehten heimlich: »Bitte, nehmt mich!« Es hatte nichts damit zu tun, wer man war. Die Gruppe machte einen zu etwas Besonderem. Darin bestand ihre magische Kraft.
Ihre Macht war so groß, dass ich mich tatsächlich geehrt fühlte, als einer von ihnen mich mit einem Stein im Gesicht traf. Es geschah nach der Schule, und als ich nach Hause kam, rannte ich gleich ins Zimmer meiner Schwester, hielt mein blutiges Kleenex fest umklammert und heulte »Es war Thad!!!«
Lisa war eine Klasse über mir, aber sie verstand, was es für mich bedeutete. »Hat er etwas gesagt?«, fragte sie. »Hast du den Stein behalten?«
Mein Vater forderte mich auf, es ihm heimzuzahlen und den Kerl zu verdreschen.
»Aber Dad.«
»Ach, Firlefanz. Ein gezielter Schlag auf die Zwölf, und der geht zu Boden wie ein Sack Mehl.«
»Redest du mit mir?«, fragte ich. Abgesehen von der archaischen Ausdrucksweise, für wen hielt mein Vater mich denn? Jungen, die am Wochenende Bananen-Nuss-Muffins buken, verstanden in der Regel wenig von der Kunst des Zweikampfs.
»Also wirklich, Dad«, sagte Lisa. »Wach auf.«
Am nächsten Nachmittag gingen wir zu Dr. Povlitch zum Röntgen. Der Stein hatte einen Zahn im Unterkiefer getroffen, und es gab einige Unstimmigkeiten, wer für die anstehende Wurzelbehandlung aufkommen sollte. Ich war der Meinung, da meine Eltern mich gezeugt, zur Welt gebracht und als Dauergast in ihrem Haushalt großgezogen hatten, sollten sie die Rechnung übernehmen, aber mein Vater sah das anders. Er entschied, die Popes sollten zahlen, und als er nach dem Telefonbuch griff, schrie ich laut auf.
»Aber du kannst nicht einfach so bei Thad anrufen.«
»Ach ja?«, sagte er. »Dann pass mal auf.«
Es gab zwei Thad Popes im Telefonbuch von Raleigh, einen Junior und einen Senior. Der in meiner Klasse kam nach dem Junior. Er war der dritte in der Reihe. Mein Vater rief sowohl den Junior als auch den Senior an und begann das Gespräch jeweils mit dem Satz: »Lou Sedaris hier. Hör zu, Kumpel, wir haben hier ein Problem mit deinem Sohn.«
Er betonte unseren Nachnamen so, als bedeute er etwas, als seien wir eine bekannte und angesehene Familie. Umso schmerzlicher war es, als er gebeten wurde, den Namen noch einmal zu wiederholen und ihn dann auch noch zu buchstabieren.
Für den kommenden Abend war ein Treffen anberaumt, und bevor wir aus dem Haus gingen, drängte ich meinen Vater, sich etwas anderes anzuziehen. Er hatte unseren Carport erweitert und trug khakifarbene Shorts, die voller Farbkleckse und getrockneter Betonspritzer waren. Durch ein Loch in seinem verwaschenen T-Shirt konnte man ohne große Verrenkungen seine Brustwarze sehen.
»Was zum Teufel passt dir daran nicht?«, fragte er. »Wir bleiben nicht zum Abendessen, wen kümmert es da, was ich anhabe?«
Ich brüllte nach meiner Mutter, und zuletzt ließ er sich erweichen, zumindest ein anderes Hemd anzuziehen.
Von außen unterschied sich Thads Haus nicht groß von den Häusern anderer Leute – ein ganz normales Haus mit Halbetage und einem nach Ansicht meines Vaters gänzlich Indiskutablen Carport. Mr. Pope öffnete die Tür in sorbetfarbenen Golfhosen und führte uns die Treppe hinunter in den so genannten »Hobbykeller«.
»Oh«, sagte ich, »schön haben Sie es hier«.
Der Raum war klamm und fensterlos. An der Decke hingen Tiffany-Lampen, deren bunte Glassplitter die Wörter Busch und Budweiser buchstabierten. Die Wände waren mit Walnussimitat verkleidet, und das Mobiliar sah aus, als hätten Pioniere mit der Axt versucht, aus den Einzelteilen ihres geliebten Planwagens Sessel und Couchtische zu zimmern. Dann bemerkte mein Vater das Paddel einer Studentenverbindung über dem Fernseher an der Wand und sagte in gebrochenem Griechisch: »Kalispera sas adhelfos!«
Als Mr. Pope ihn nur verständnislos anstarrte, lachte er und schickte die Übersetzung hinterher: »Ich sagte: ›Guten Abend, Bruder.‹«
»Ach... richtig«, sagte Mr. Pope »Studentenverbindungen haben meist griechische Namen.«
Er dirigierte uns zum Sofa und fragte, ob wir etwas trinken wollten. Cola? Ein Bier? Ich wollte mich nicht an Thads wertvollen Colavorräten vergreifen, aber noch ehe ich ablehnen konnte, erwiderte mein Vater: »Aber ja doch, wir nehmen von jedem eins« Die Bestellung wurde nach oben weitergeleitet, und kurz darauf erschien Mrs. Pope mit Dosen und Plastikbechern auf der Treppe.
»Guten Tag, schöne Frau«, sagte mein Vater. Es war sein Standardspruch bei attraktiven Frauen, aber in dem Fall war klar, dass es als Scherz gemeint war. Mrs Pope war nicht unattraktiv, sondern ganz normaler Durchschnitt, und als sie die Getränke vor uns auf den Tisch stellte, bemerkte ich, dass ihr Sohn ihre stumpfe, leicht nach oben weisende Nase geerbt hatte, was ihm gut stand, bei ihr allerdings den Eindruck von Misstrauen und Selbstgerechtigkeit erweckte.
»So«, sagte sie. »Ich habe gehört, Sie waren beim Zahnarzt.« Sie wollte lediglich Smalltalk machen, aber wegen ihrer Nase klang es wie ein Vorwurf, als hätte ich mir ein Loch im Zahn füllen lassen und suchte nun nach jemandem, der die Rechnung bezahlte.
»Und ob er beim Zahnarzt war«, sagte mein Vater. »Wenn man einen Stein ins Gesicht geworfen bekommt, geht jeder vernünftige Mensch meines Erachtens nach zuerst zum Zahnarzt.«
Mr. Pope hob abwehrend die Hände in die Luft. »Augenblick«, sagte er. »Wir können das in aller Ruhe regeln.« Er rief laut den Namen seines Sohnes, und als keine Reaktion erfolgte, griff er zum Telefon und wies Thad an, nicht weiter große Reden zu schwingen und seinen Allerwertesten in den Hobbykeller zu schieben, und zwar dalli.
Man hörte flinke Schritte auf den mit Teppich bezogenen Stufen, dann sprang Thad ins Zimmer, ganz der brave und folgsame Sohn. Der Minister hatte gerufen Es wurde neu verhandelt. »Guten Tag, Sir, Sie sind... ?«
Er sah meinem Vater in die Augen und drückte ihm fest und mit einem genauen Gespür für das richtige Timing die Hand. Meist ist ein Händedruck nur ein verlegenes Nuscheln, Thads Handschlag aber verkündete laut und deutlich die Botschaft Das haben wir gleich erledigt und Ich rechne bei der Wahl im November mit Ihrer Stimme.
Ich hatte geglaubt, ihn außerhalb der Clique zu sehen wäre verstörend, als fände man einen Arm auf dem Gehweg, aber Thad konnte problemlos allein auftreten. Man brauchte ihn nur in Aktion zu sehen, um zu begreifen, dass seine Popularität kein Zufall war. Anders als normale Menschen, besaß er die unheimliche Gabe, den Leuten zu gefallen. Und zwar ohne sich einzuschmeicheln oder sich krampfhaft zu bemühen, anderen nach dem Mund zu reden. Wie bei einer Whitman-Anthologie schien er von allem etwas zu bieten. Hatte man seine athletischen Fähigkeiten bewundert, konnte man sich an seinen ausgezeichneten Manieren, seiner Selbstsicherheit oder seinem ansteckenden Enthusiasmus erfreuen. Selbst seine Eltern schienen in seiner Gegenwart aufzublühen und sich ein wenig aufzurichten, als er neben ihnen Platz nahm. Unter anderen Umständen hätte mein Vater auf der Stelle einen Narren an ihm gefressen, ihn womöglich gar mit Sohn angeredet, aber hier ging es um Geld, und er riss sich zusammen.
»Also gut«, sagte Mr. Pope. »Da jetzt alle versammelt sind, können wir die Angelegenheit hoffentlich rasch bereinigen. Ich habe ohnehin den Eindruck, es handelt sich hier bloß um ein kleines Missverständnis unter Freunden.«
Ich senkte den Blick und wartete darauf, dass Thad seinen Vater aufklärte. »Freunde? Mit dem?« Ich war auf sein Lachen oder Thads berühmtes Schnauben gefasst, aber er sagte gar nichts. Und mit seinem Schweigen hatte er mich endgültig für sich gewonnen Ein kleines Missverständnis – genau das war es. Wieso hatte ich das nicht früher erkannt?
Als Erstes musste ich meinen Freund schützen, also erklärte ich, ich hätte mich praktisch in die Flugbahn von Thads Stein geworfen.
»Warum zum Teufel hat er denn mit Steinen geworfen?«, fragte mein Vater. »Und wen verdammt noch mal wollte er treffen?«
Mrs. Popes gerunzelte Stirn signalisierte, dass eine solche Ausdrucks weise in ihrem Hobbykeller nicht erwünscht war.
»Ich meine, mein Gott, der Kerl ist ja kein Vollidiot.«
Thad schwor, er habe niemanden treffen wollen, und ich pflichtete ihm bei und sagte, wir Jungen würden das alle machen. »Wie in Vietnam oder so... Beschuss aus den eigenen Reihen.«
Mein Vater sagte, was zum Teufel ich schon von Vietnam wisse, und erneut zuckte Thads Mutter zusammen und sagte, die Jungen würden solche Dinge aus dem Fernsehen aufschnappen.
»Sie wissen ja nicht, was Sie da reden«, sagte mein Vater.
»Meine Frau meinte bloß...«, sagte Mr. Pope.
»Ach, Humbug.«
Die drei Popes blickten sich viel sagend an und hielten so etwas wie ein kurzes telepathisches Powwow. »Der Mann ist irre«, meldeten die Rauchzeichen. »Macht überall jede Menge Ärger.«
Ich sah meinen Vater an, einen Mann in dreckigen Shorts, der sein Bier aus der Büchse trank, anstatt es erst in ein Glas zu kippen, und ich dachte: Du gehörst nicht hierher. Genauer gesagt, ich beschloss, dass er der Grund war, warum ich nicht hierher gehörte. Sein aufgesetztes griechisches Gerede, die Belehrungen, wie man Beton richtig anrührte, das Gezänk, wer die blöde Zahnarztrechnung bezahlen müsste – nach und nach war das alles in mein Blut eingesickert und hatte mich meiner natürlichen Gabe beraubt, anderen zu gefallen. Solange ich mich erinnern konnte, hatte er uns eingeredet, es sei völlig egal, was andere Leute von uns dachten: Ihr Urteil sei bloß ein Haufen Müll, reine Zeitverschwendung, Mumpitz. Nur war es eben nicht egal, erst recht nicht, wenn die anderen Leute diese Leute waren.
»Nun«, sagte Mr. Pope. »Ich denke, so kommen wir nicht weiter.«
Mein Vater lachte. »Genau so ist es.« Es klang wie ein Satz zum Abschied, aber anstatt aufzustehen und zu gehen, lehnte er sich im Sofa zurück und stellte seine Bierdose auf den Bauch. »Keiner kommt so weiter.«
Ich bin mir ziemlich sicher, Thad und ich hatten in dem Augenblick das gleiche düstere Szenario vor Augen. Der Rest der Welt ging seinen Geschäften nach, nur mein Vater hielt ungewaschen und mit zotteligem Bart das Sofa im Hobbykeller in Beschlag. Weihnachten kam, Freunde erschienen zu Besuch, und die Popes führten sie mit verbitterter Miene zu den Sesseln. »Kümmert euch nicht um den«, sagten sie. »Der geht irgendwann schon wieder.«
Zuletzt erklärten sie sich bereit, die Hälfte der Kosten für die Wurzelbehandlung zu übernehmen, nicht, weil sie es für angemessen hielten, sondern um uns loszuwerden.
Manche Freundschaften werden aufgrund gemeinsamer Interessen und Vorstellungen geschlossen: Beide Seiten begeistern sich für Judo oder Camping oder die Herstellung von Würsten. Andere Freundschaften entstehen als Bündnis gegen einen gemeinsamen Feind. Beim Verlassen von Thads Haus beschloss ich, unsere würde zur zweiten Kategorie gehören. Zuerst würden wir gemeinsam über meinen Vater herziehen, und dann würden wir nach und nach zu den zahllosen anderen Dingen und Personen kommen, die wir nicht ausstehen konnten. »Du magst keine Oliven?«, hörte ich ihn sagen. »Ich auch nicht.«
Im Endeffekt war die einzige Sache, die wir beide nicht ausstehen konnten, ich selbst. Genauer gesagt, ich konnte mich nicht ausstehen. Thad machte sich nicht einmal diese Mühe. Am Tag nach unserem Treffen ging ich in die Caféteria zu dem Tisch, an dem er und seine Clique immer saßen. »Hör zu«, sagte ich, »tut mir wirklich Leid wegen der Sache mit meinem Vater« Ich hatte eine längere Rede vorbereitet, einschließlich einiger Imitationen meines Vaters, aber nachdem ich meinen ersten Satz beendet hatte, wandte er sich wieder seiner Unterhaltung mit Doug Middleton zu. Unsere beiderseitige Falschaussage, der Auftritt meines Vaters, sogar der Steinwurf. Ich befand mich so weit unter ihm, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnerte.
Puff.
In der Mittelstufe leuchteten die Stars am E. C. Brooks noch heller, doch in der zehnten Klasse begannen sich die Dinge zu ändern. Die Aufhebung der Rassentrennung trieb eine ganze Reihe der angesehenen Schüler an Privatschulen, und die, die blieben, kamen einem stumpf und von gestern vor, wie der abgesetzte Adel eines Landes, dessen einfache Bürger sich nicht länger für ihn interessierten. Gleich zu Anfang der siebten Klasse wurde Thad von einer Gruppe der neuen schwarzen Schüler überfallen. Sie zogen ihm seine Schuhe aus und warfen sie ins Klo. Ich wusste, ich hätte mich freuen sollen, aber irgendwie fühlte ich mich persönlich angegriffen. Zweifellos war er ein gleichgültiger Herrscher gewesen, aber ich glaubte immer noch an die Monarchie. Als sein Name auf der Schulabschlussfeier aufgerufen wurde, applaudierte ich am längsten, länger noch als seine Eltern, die aus Anstand aufhörten, nachdem er das Podium verlassen hatte.
Ich dachte in den kommenden Jahren viel an Thad und fragte mich, an welches College er wohl ging und ob er einer Studentenverbindung beigetreten war. Die Zeit der überragenden Gestalten auf dem Campus war vorüber, doch die verräucherten Kneipen mit ihren Billardtischen und den falschen Bräuten waren weiterhin die Anlaufstelle der einstigen Anführer, in denen man jetzt potenzielle Vergewaltiger von Prostituierten und zukünftige Alkoholiker sah. Ich rede mir ein, dass Thad, während seine Freunde einer Ungewissen und bitteren Zukunft entgegentrieben, in einer Vorlesung landete, die sein Leben veränderte. Heute ist er Hofdichter von Liechtenstein, der Chirurg, der Krebs mit Liebe heilt, der Lehrer von Neuntklässlern, der darauf beharrt, dass auf dieser Welt genügend Platz für alle ist. Wenn ich in eine andere Stadt ziehe, hoffe ich jedes Mal, er könnte in der Nachbarwohnung wohnen. Wir begegnen uns im Flur, und er streckt die Hand aus und sagt: »Entschuldigung, aber kenne ich – müsste ich Sie nicht kennen?« Es muss nicht heute passieren, aber irgendwann. Ich habe eine halbe Ewigkeit damit verbracht, auf ihn zu warten, und wenn er nicht kommt, muss ich meinem Vater verzeihen.
Der Zahn mit der Wurzelbehandlung, der ein Jahrzehnt halten sollte, hält mittlerweile seit über dreißig Jahren, auch wenn das kein Grund ist, stolz zu sein. Nachdem er immer weiter abgestorben und gefühllos geworden ist, hat er inzwischen eine graubraune Färbung, die im Conran-Katalog als »Kabuki« bezeichnet wird. Er hält zwar noch, aber auch nur so gerade eben. Im Gegensatz zu Dr. Povlitch, der seine Patienten in einem umgebauten Ziegelbau neben dem Colony Shopping Center behandelte, hat mein gegenwärtiger Zahnarzt, Docteur Guige, eine Praxis unweit der Madeleine in Paris. Die Sprechstundenhilfe ruft meinen Namen auf, und oft dauert es eine Weile, bis ich begreife, dass ich gemeint bin.
Bei einem der letzten Besuche packte Docteur Guige meinen toten Zahn mit den Fingerspitzen und schob ihn leicht hin und her. Da ich seine Geduld nicht unnötig strapazieren mochte, brauchte ich eine Weile, bis ich auf seine Frage, wie es passiert sei, eine möglichst klare Antwort gefunden hatte. Die Vergangenheit war viel zu kompliziert für mein Französisch, also stellte ich mir eine perfekte Zukunft vor und erklärte die Wurzelbehandlung mit einem kleinen Missverständnis unter Freunden.